15.04.2013

Der Reiz der Anti-Illusion 4 — Freude am Ornament

Kinder versuchen die Illusion von Räumlichkeit zu erwecken, indem sie beispielsweise Straßen und Gebäude irgendwie perspektivisch darstellen.

Andere Formen, deren Räumlichkeit man nur durch Schatten darstellen könnte, bleiben dagegen flach. Die Baumkrone auf der Zeichnung links beispielsweise hätte man mit Schatten als Kugel beschreiben können, den Oberkörper der Figur als Kombination von drei Zylindern. Dass Kinder solche Bildbereiche als Flächen auffassen sieht man daran, wie sie Ornamente oder Muster auftragen: flächig, wie ausgeschnitten und aufgeklebt hängen die Äpfel im Baum und auch die Streifen des Pullis folgen nicht den Körperformen, sondern sind einfach über das flache Papier gezogen.




Von dem Modezeichner René Gruau stammt diese Zeichnung. Als erfahrener Künstler schafft er es, die räumlichen Formen der Arme anhand des Streifenmusters zu beschreiben. Er erschafft mit Hilfe des Musters die Illusion eines dreidimensionalen komplexen Körpers.








































Man weiß hier, dass die Dame etwas Gestreiftes trägt, aber die einfache und schöne Regelmäßigkeit der Streifen, so wie sie auf der ersten Zeichnung zu sehen ist, ist nicht wahrnehmbar.

In einem anderen Bild von Gruau hat er ebenfalls Streifen dargestellt, aber dieses Mal wollte er vor allem die Streifen selbst zeigen, den Gegensatz zwischen quer- und längsgestreift, und nicht die Räumlichkeit des Körpers. Die illusionistische Räumlichkeit des Körpers hat er vernachlässigt. Ja, er zeigt nicht mal, dass sich unten die Beine kreuzen.


Das Anti-Illusionistische an diesem Bild ist der bewusst gewählte Kontrast zwischen den flächig dargestellten Mustern einerseits und den wirklichkeitsgetreu und räumlich dargestellten Körperteilen - vor allem dem Gesicht. Das flächige Muster zerstört den Räumlichkeitseindruck und damit die Illusion.

Für mich drückt sich darin die besondere Wertschätzung des Ornament-Designs aus. Man möchte es in seiner Ursprünglichkeit zeigen, als Stoff, der auf dem Schneidertisch flach vor einem liegt, nicht als zerknautschtes Kleidungsstück an einem Körper.







Japanische Holzschnitte drücken diese Freude am Ornament häufig aus. Hier sind die Muster so komplex, dass man sie gar nicht richtig erkennen könnte, wenn man sie räumlich, an die Körperformen angepasst dargestellt hätte.



Die Kleiderstoffe wirken auf diesem Bild beispielsweise als wären sie aus gemustertem Papier ausgeschnitten und aufgeklebt worden. 

Auch im letzten Beispiel hat der Künstler der flächigen Darstellung eines komplexen Ornamentes den Vorzug vor einer räumlich illusionistischen Darstellung gegeben.



An den Kopfbedeckungen sieht man, dass der Künstler oder die Künstlerin sehr genau wusste, wie man textile Muster räumlich darstellt. Auch der dunkle Teppich wirkt einigermaßen perspektivisch, also räumlich. 

Aber das Muster auf dem Boden ist so flächig dargestellt, dass es in seiner schönen Regelmäßigkeit voll zur Geltung kommen kann. Nach oben hin werden die Streifen zwar ein ganz klein wenig schmaler, aber es entsteht kaum der Eindruck, dass man auf einen vor einem liegenden Boden schaut, sondern vielmehr auf eine vor einem stehende gemusterte Fläche. Das wiederum steht im Gegensatz zu den Figuren, so dass diese scheinbar über dem Boden schweben. Die Illusion der Räumlichkeit wird hier zwar nicht komplett zerstört, aber durch die "falsche" Darstellung des Bodens stark irritiert.

Konnte der Künstler den Boden nicht perspektivischer – also räumlicher – malen? Oder war ihm die flächige Darstellung des Ornamentes so wichtig, dass er das Muster nicht durch ein perspektivische Darstellung verzerren wollte? Wie auch immer: Im Ergebnis sieht man die volle Schönheit des Ornaments, die Illusion der Räumlichkeit dagegen ist futsch – was ich aber nicht schade finde. Im Gegenteil: Das Bild gewinnt für mich sogar eher noch an Geheimnis und Poesie durch die schwebenden Figuren und die verschwenderische Pracht der Ornamente.

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