12.04.2013

Der Reiz der Anti-Illusion 3 — Gleichzeitigkeit

Eine weitere ungeschriebene Regel, die eine illusionistische Illustration nicht brechen darf, besagt, dass zeitlich getrennte Ereignisse nicht in ein und demselben Bild dargestellt werden dürfen. In meiner (simulierten) Kinderzeichnung beispielsweise ist das Mädchen mehrfach zu sehen. Im Vordergrund stellt sie sich vor, dahinter fährt sie im Auto und links oben reitet sie. Warum muss man diese kleine Geschichte eigentlich in drei getrennten Bildern darstellen, wenn doch eins dafür ausreicht.








In der westlichen Kunstgeschichte gab es etwa bis zur Renaissance Künstler, die erzählende Tableaus gemalt haben, in denen eine Figur mehrfach zu sehen ist. In diesem Bild von Hans Memling aus dem 15. Jahrhundert wird die Passionsgeschichte erzählt. Hier kann man das Bild im Detail betrachten.



Die Szenen sind grob gesehen von links nach rechts zu "lesen", wobei sie durch die Architekturdarstellung voneinander getrennt werden. Im Grunde sind es separat komponierte Einzelbilder, die in die Architekturdarstellung hineinmontiert sind.






























Ähnlich verhält es sich bei diesem Bild, einer Darstellung des Heiligen Petrus des Einsiedlers, der einen Brief des Patriarchen von Jerusalem zu Papst Urban II. nach Rom bringt. Auch hier trennt die Architektur die Szenen und die Gebäude haben die Funktion von Bildrahmen. Schön finde ich übrigens wie in diesem Bild etwas ganz Einfaches, nämlich das Überbringen eines Briefes, auf die große Weltpolitik trifft.

Dass man zeitlich getrennte Ereignisse in einem Bild auch ohne Architektur als Hilfsrahmen zeigen kann demonstriert dieses Bild.



Der 90jährige Heilige Antonius macht sich links oben auf den Weg, segnet und bekehrt auf halber Strecke einen Zentauren, ein Symbol für die Heiden, denen er begegnete, und trifft schließlich den 113jährigen Heiligen Einsiedler Paulus von Theben – alles in derselben Landschaft. Auch hier wird wieder eine einfache Geschichte in einer charmant naiven Art erzählt ohne dass sich der Maler Gedanken darüber gemacht hätte, dass eine Person nicht mehrfach in demselben Bild auftauchen darf.







In anderen Kulturen gibt es übrigens ganz ähnliche Kunstwerke. Unten beispielsweise sieht man eine Malerei aus Indien. Sie zeigt zwei Szenen aus der Geschichte von Rama – dem wiedergeborenen Gott Vishnu. In der Verbannung lebend lernen er und seine Frau Sita eine Gruppe Asketen kennen, die Rama um Schutz bitten.




























Heute ist diese Art der Darstellung zeitlich getrennter Ereignisse im selben Bild aus unserer Kultur verschwunden. Selbst in Bilderbüchern trifft man nur noch selten auf Beispiele wie die unten abgebildete Doppelseite aus dem Buch Serafin und seine Wundermaschine von Phillipe Fix.

Die einschränkende Regel, dass Gleichzeitiges nicht in ein und demselben Bild dargestellt werden darf, hat sich durchgesetzt.


































Ergänzung auf Anregung durch einen Kommentar: Sven Nordqvist ist ein Illustrator, der dieses Stilmittel mehrfach benutzt und sehr gut beherrscht. Danke für den Hinweis an Steffi kunstknäul.





















2 Kommentare:

  1. Wieder ein toller Artikel! Ich les die total gern! :) Freu mich schon auf den Nächsten.

    (Leider muss ich schon wieder Klugsch*****... ;) Sven Nordqvist der Autor und Illustrator von Petterson und Findus benutzt diese Technik häufiger in seinen Büchern, so auch in dem Klassiker "Wie Findus zu Petterson kam")

    LG Steffi Kunstknäul

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